Masterstudiengang "Drug Regulatory Affairs"

Master-Thesis

Das Gender Health Gap in der Arzneimittelforschung und bei der Arzneimittelzulassung innerhalb der Europäischen Union – Spiegelt sich eine Berücksichtigung von geschlechtsspezifischen Unterschieden in den regulatorischen Rahmenbedingungen und in den Produktinformationen wider? Eine Betrachtung anhand der Beispiel-Indikationen Rheumatoide Arthritis (RA) (2017 - 2024) und COVID-19 (2020 - 2024) ***

Dr. Martina Hänsel (Abschlußjahr: 2024)

Zusammenfassung
Sprache: Deutsch
In der Vergangenheit wurden Frauen in der Arzneimittelforschung wenig bis gar nicht berücksichtigt und die an Männern gewonnenen Erkenntnisse einfach unhinterfragt auf Frauen übertragen. Nach dem Contergan-Skandal in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden zumindest gebärfähige Frauen bis 2004 in der EU von klinischen Arzneimittelprüfungen gänzlich ausgeschlossen. Daraus entstand eine Daten-, Wissens- und daraus resultierend auch eine Behandlungslücke, die als „Gender Health Gap“ bezeichnet wird.
Frauen sind jedoch nicht einfach als „kleinere und leichtere Männer“ anzusehen. Die neuere Forschung zeigt, dass es in jedem menschlichen Gewebe und Organsystem geschlechtsspezifische Unterschiede gibt. Viele Erkrankungen verlaufen bei Männern und Frauen unterschiedlich und benötigen daher möglicherweise eine jeweils andere Diagnostik oder Behandlung. Aus den geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Physiologie und Pathologie leiten sich Unterschiede ab, die sich in der Pharmakotherapie bemerkbar machen.
Der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller und die nationale Behörde BfArM in Deutschland vertreten die Ansicht, dass die Datenlücke in der Arzneimittelforschung geschlossen und geschlechtsspezifische Aspekte immer berücksichtigt seien.
In der vorliegenden Arbeit werden die aktuellen gesetzlichen Rahmenbedingungen in der EU und in Deutschland bewertet, inwieweit die Einbeziehung von geschlechtsspezifischen Besonderheiten und die Erhebung repräsentativer Daten in der präklinischen und klinischen Forschung verankert sind. Darüber hinaus wurden in den öffentlich verfügbaren Produktinformationen von elf zentral zugelassenen Arzneimitteln innerhalb der EU aus den Jahren 2017 bis 2024 (Stand 31.05.2024) für die Beispiel-Indikationen Rheumatoide Arthritis (RA) und COVID-19 analysiert, welche geschlechtsspezifischen Aspekte erhoben und aufgeführt worden sind. Die beiden beispielhaften Indikationen wurden ausgewählt, weil umfangreiche Informationen und Erkenntnisse zu geschlechtsspezifischen Unterschieden existieren.
Für die präklinische Forschung werden in den Leitlinien des ICH die Einbeziehung von Versuchstieren beider Geschlechter gefordert. Dies wurde bei allen untersuchten Arzneimitteln adäquat umgesetzt.
Die Verordnung 536/2014/EU zur Durchführung klinischer Studien gilt seit ihrem Inkrafttreten als Fortschritt bei der Umsetzung der geschlechtssensiblen Medizin, insbesondere die Vorgabe, dass in den klinischen Studien Patient*innen in der Verteilung unter den Geschlechtern einbezogen werden müssen, die der Epidemiologie der untersuchten Indikation entspricht. Bei den untersuchten elf Präparaten war dies zu 100 Prozent – zumindest in den ausführlicheren Produktinformationen – umgesetzt. Nicht alle der aufgeführten Informationen hingegen fanden den Weg in die Fachinformationen/SmPCs der überprüften Arzneimittel. Nur bei 36 Prozent der Präparate war die Verteilung der Studienteilnehmenden im Abschnitt 5.1 der Fachinformation ersichtlich, und die Tatsache, inwieweit mögliche unterschiedliche Dosierungen für Männer und Frauen aufgrund unterschiedlicher Pharmakokinetik untersucht wurden, war in keiner der analysierten Fachinformationen angeführt. Insgesamt konnten bei den elf untersuchten Arzneimitteln die 13 formulierten Fragen zur Aufnahme geschlechtsspezifischer Aspekte in die Produktinformationen bei neun Präparaten zu über zwei Dritteln positiv beantwortet werden.
Insbesondere die Einbeziehung von Versuchstieren beider Geschlechter und die Einbeziehung von Patientinnen und Patienten in den Epidemiologien adäquaten Geschlechterverhältnissen stehen im Widerspruch zur öffentlichen Debatte, in der diese Tatsachen noch weitgehend negiert werden. Allerdings entspricht die beispielhafte Auswertung von elf Präparaten auch lediglich einem Bruchteil der in Deutschland auf dem Markt befindlichen Arzneimittel, von denen eine Vielzahl vor 2004 zugelassen wurde und daher bei der klinischen Prüfung nicht den aktuellen Gesetzen unterlag.
Insgesamt gibt es noch Raum für Verbesserungen im Bereich der geschlechtssensiblen Medizin: So ist eine eigene Leitlinie für Frauen in der klinischen Forschung überfällig und wird von Experten und Institutionen gefordert, ebenso wie die Etablierung eines Standardabschnitts zu den Ergebnissen geschlechtsspezifischer Untersuchungen in den Fach- und Gebrauchsinformationen.
Die Datenlücke beginnt sich langsam zu schließen. Insbesondere mit der Etablierung des neuen Fachs „Gendermedizin“ in die neue Approbationsordnung ab 2025 wird sich die geschlechtssensible Medizin langfristig als Querschnittsfach etablieren können, die alle medizinischen Bereiche durchdringt. Selbstverständlich und vollständig umgesetzt ist sie zum jetzigen Zeitpunkt aber noch nicht. Insbesondere vor dem Hintergrund von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz ist es wichtig, die Lücken zu füllen, damit jede Person die ihr zustehende beste medizinische Versorgung erhalten kann.
Seiten: 88
Annexes: 1, Seiten: 24

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