Masterstudiengang "Drug Regulatory Affairs"

Master-Thesis

Kinderarzneimittel in der frühen Nutzenbewertung: Eine Übersicht mit Fokus auf den Evidenztransfer zur Bewertung des Zusatznutzens ***

Dr. Verena Becker (Abschlußjahr: 2022)

Zusammenfassung
Sprache: Deutsch
Bei der medizinischen Versorgung ist es problematisch, dass viele Arzneimittel nicht oder nicht ausreichend für Kinder geprüft sind und daher außerhalb der Zulassung Off-Label eingesetzt werden, ohne dass die geeignete Dosierung bekannt ist oder kindgerechte Darreichungsformen zur Verfügung stehen. Vor diesem Hintergrund wurde mit der Einführung der Verordnung (EG) Nr. 1901/2006 in der Europäischen Union (EU) der gesetzliche Rahmen geschaffen, um mit Anreizen und Verpflichtungen die Forschung, Entwicklung und Zulassung von Arzneimitteln für pädiatrische Patienten gezielt zu fördern. Ein wichtiger Bestandteil der Entwicklung und Zulassung dieser Arzneimittel ist die Extrapolation, also die Übertragung von Daten von einer Ausgangspopulation (häufig erwachsene Patienten) auf eine Zielpopulation (hier: pädiatrische Zielpopulation), um bei einer reduzierten Evidenzlage Rückschlüsse auf die Zielpopulation ziehen zu können. Neben der Zulassung spielt außerdem auch die Bewertung von Gesundheitstechnologien (HTA) eine wesentliche Rolle für die Markteinführung eines Arzneimittels.
Vor diesem Hintergrund wurde in dieser Arbeit untersucht, ob sich die vom Gesetzgeber vorgesehene Stärkung der Versorgung für die pädiatrische Population in der Anerkennung eines Zusatznutzens von Kinderarzneimitteln durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) im Rahmen der HTA-Bewertung in Deutschland wiederfindet. Dazu wurde insbesondere analysiert, unter welchen Voraussetzungen der G-BA eine Extrapolation anerkennt. Auf Basis der vom G-BA veröffentlichten Informationen wurden dafür alle abgeschlossenen Verfahren seit Einführung der frühen Nutzenbewertung im Jahr 2011 bis einschließlich Ende Mai 2022 betrachtet.
Insgesamt deutet ein Vergleich der in den Gutachten des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) getroffenen Bewertungsempfehlungen mit den vom G-BA verabschiedeten Beschlüssen darauf hin, dass der G-BA den hohen therapeutischen Bedarf bei Kinderarzneimitteln bei seiner Beschlussfindung zumindest in Teilen berücksichtigt. Eine Diskrepanz zwischen der Beurteilung von IQWiG und G-BA lässt sich dabei insbesondere auf die unterschiedliche Bewertung eines Evidenztransfers zurückführen.
Der G-BA erkennt einen Evidenztransfer sowohl für Arzneimittel zur Behandlung von Erkrankungen an, die sich bereits im Kindesalter manifestieren, aber auch bei Krankheiten, die unabhängig vom Alter bei Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen erstmalig auftreten können. Dabei zieht der G-BA einen Evidenztransfer vor allem bei Anwendungsgebieten mit einem hohen therapeutischen Bedarf in Betracht; eine Einschränkung auf PUMA-Arzneimittel, wie in der Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung vorgesehen, findet hier nicht statt. Nicht immer erkennt der G-BA allerdings eine Extrapolation, die bereits im Rahmen der Zulassung eines Kinderarzneimittels von den Zulassungsbehörden akzeptiert wurde, zur Ableitung eines Zusatznutzens an. Allerdings wurden auch Verfahren identifiziert, in denen der G-BA einen Zusatznutzen aufgrund eines Evidenztransfers ausgesprochen hat, obwohl eine Extrapolation nicht zulassungsbegründend war oder keine Hinweise darauf in den Bewertungsdokumenten der Zulassungsbehörden zu finden waren.
Mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz plant die Bundesregierung weitreichende Eingriffe in das bisherige HTA-System in Deutschland. Vor dem Hintergrund, dass viele Kinderarzneimittel Orphan Drugs sind und ein Evidenztransfer in der Regel zu einem nicht quantifizierbaren Zusatznutzen führt, ist dieses Gesetzesvorhaben im Kontext der auf EU-Ebene intendierten Förderung von Kinderarzneimitteln besonders kritisch zu sehen, und es bleibt abzuwarten, ob die hier geplante Gesetzesänderung Auswirkungen auf die Entwicklung und Verfügbarkeit von innovativen Arzneimitteln und insbesondere von Kinderarzneimitteln hat.
Insbesondere vor dem Hintergrund der schrittweisen Einführung einer gemeinsamen Bewertung von Gesundheitstechnologien auf EU-Ebene bleibt darüber hinaus abzuwarten, in welchem Ausmaß die Extrapolation klinischer Daten zukünftig eine Rolle spielen wird, auch bei der nationalen Nutzenbewertung von Kinderarzneimitteln durch den G-BA. Wünschenswert wäre es, wenn möglichst einheitliche Anforderungen an die europäische HTA geschaffen werden, und in diesem Rahmen sollte auch eine Extrapolation klinischer Daten Eingang in die Festlegung einer gemeinsamen Methodik zur HTA auf Unionsebene finden. Nur so profitieren letztlich auch die Patienten von einem hoffentlich verbesserten schnellen und europaweiten Zugang zu innovativen Arzneimitteln – ein bis heute bestehendes Problem bei der medizinischen Versorgung von Kindern, insbesondere auch von Kindern mit seltenen Leiden.
Seiten: 93
Annexes: 1, Seiten: 28